Zurück auf dem Land: Warten mit Garten oder Zukunft gestalten?
Kennt ihr Marktplatz-Elfen? Nein? – Marktplatz-Elfen sind Jugendliche, die an einem Freitag- oder Samstagabend auf dem Marktplatz abhängen in der Hoffnung, dass jemand von den Glücklichen, die schon den Führerschein haben, zufällig mit dem Auto vorbeifährt und sie spontan mitnimmt zu irgendwas, was Spaß macht: Kino in Neubrandenburg, zur Not tut es auch der McDonald’s. Hauptsache raus und das Gefühl, etwas zu tun, was dem Wochenendgefühl angemessen erscheint.
Der Elfen-Begriff stammt von meinem damals 15-jährigen Ich und meinem besten Freund. Wir haben sie immer belächelt, die Elfen. “Die haben wohl nichts Besseres zu tun”, ätzten wir und radelten, vorbei am Marktplatz, zu einem von uns nach Hause. Chips und Fernsehen warteten, wie jeden Samstagabend. Insgeheim waren auch wir Marktplatz-Elfen. Auch wir wollten, dass jemand anhält und uns mitnimmt, raus aus der Eintönigkeit und rein ins echte Leben. Unbegrenzte Möglichkeiten und so. Oder wenigstens ein Big Mac. ‚Wenn ich den Abschluss in der Tasche habe, bin ich weg.‘ – Ein Satz, den wir damals oft sagten. Und der sich bewahrheitete. Dass es auch in Berlin jede Menge Marktplatz-Elfen gibt, wurde mir erst viel später bewusst. Denn während ich mich vom (damals noch bezahlbaren) sanierten WG-Altbauzimmer aus unbeschwert durch mein Berlin-Mitte-Studileben feiern konnte, waren und sind zehn S-Bahn-Stationen bis Mitte eine unüberwindbare Hürde für viele junge Menschen aus Familien mit harten Biografien.
Gesellschaftliche Teilhabe, und auch das habe ich erst sehr viel später verstanden, hat vor allem mit Strukturen zu tun. Und: Teilhabe kennt kein Mindestalter. Auch die Kleinen und Kleinsten sind Teil dieser Gesellschaft und dürfen für sich beanspruchen, dass ihre Bedürfnisse mitgedacht und in entsprechenden Strukturen abgebildet werden. Gute Rahmenbedingungen, Bildungs- und Betreuungsangebote und ein Umfeld, in dem Kinder und Jugendliche sich entfalten können, in dem sie wirken, mitgestalten oder einfach unbeschwert Spaß haben können, sind der wichtigste Treiber für eine gute Zukunft, egal ob sich 20.000 oder drei Millionen Menschen eine Stadt teilen. Dieses Umfeld zu schaffen, ist Aufgabe der Politik und darf nicht allein in die (finanzielle) Verantwortung von engagierten Bürger:innen und Ehrenamt übertragen werden.
Als ich vor 19 Jahren nach Berlin ging, gab es weder Smartphone noch Instagram. Heute haben wir mit der fortschreitenden Digitalisierung die unbegrenzten Möglichkeiten direkt vor unserer Nase. Aber: Technologie allein ist noch kein Fortschritt. Erst wenn wir sie nutzen, um eben jene neuen Strukturen zu bauen, die allen Menschen Teilhabe und ein gutes Leben ermöglichen, entsteht Innovation. Soziale Innovation ist die Voraussetzung für wirtschaftliche Innovation! Sie schafft die Basis, auf der junge Menschen lernen, selbstwirksam zu agieren, ihre Ideen umzusetzen und im Bewusstsein um ihre eigenen Stärken mutig neue Wege zu gehen. Wenn wir vernetzt agieren, egal ob im digitalen Raum oder von Angesicht zu Angesicht, haben wir beste Voraussetzungen, um Städte lebenswert zu gestalten. Darin liegt eine große Chance, gerade für Regionen abseits der Großstädte. Sind diese sogar – wie meine Heimatstadt Neustrelitz – mit der Bahn direkt an eine Metropole angebunden, bringt das zudem unzählige spannende Möglichkeiten der Vernetzung und Verknüpfung von Aktivitäten in der Großstadt und in ländlichen Räumen.
Doch die Marktplatz-Elfen sind noch da, damals wie heute. Sie warten immer noch, dass etwas passiert und lösen vermutlich in Gedanken schon ihr One-Way-Ticket nach Berlin oder Hamburg oder gleich richtig weit weg. Die Stadt lässt sie ziehen. Dabei hat sie allein aufgrund ihrer Lage auf halber Strecke zwischen Hauptstadt und Ostsee und inmitten einer der schönsten Landschaften der Republik unendlich viel Raum für neue Konzepte des Zusammenlebens und der Teilhabe. Eine kreative wie nachhaltige Zukunftsgestaltung ist hier zum Greifen nah. Gerade wurde überall Glasfaser verlegt. Mein Internet hier ist schneller als in meinem Berliner WG-Zimmer, das ich nach wie vor habe, weil ich immer wieder zum Arbeiten und um mich inspirieren zu lassen, dort bin. Es gibt also keinen Grund mehr für die Kommune, auf irgendetwas zu warten. Jetzt ist die Zeit, den Raum aufzumachen und Prioritäten neu zu sortieren. Jetzt ist auch die Zeit, um Planbarkeit und Sicherheit einzutauschen gegen Offenheit, Mut und Fahren auf Sicht, das es Einheimischen wie Zugezogenen erlaubt, Dinge einfach mal auszuprobieren und auf neue Situationen flexibel und pragmatisch zu reagieren – auch finanziell. Dafür brauchen sie das Vertrauen und die Unterstützung von Politik, Verwaltung und Förderinstitutionen, von der Wirtschaftsförderung bis zur Hausbank. Dass sich die Umstände von jetzt auf gleich fundamental verändern können, hat uns Corona mit aller Deutlichkeit gezeigt. Statt zu warten, heißt es starten mit dem, was da ist. Gemeinsam mit den Menschen, die hier leben, und ihren ganz unterschiedlichen Biografien, die der wichtigste Hebel für Aufbruch und positive Veränderung sind.
Neustrelitz ist das Tor zum Müritz Nationalpark, dem größten Festland-Nationalpark Deutschlands mit über 100 Seen. Sie ist Kultur- und Theaterstadt. Das örtliche Gymnasium hat es in der Pandemie zu internationaler Bekanntheit gebracht, weil die Schulleitung von Beginn an ein eigenes Corona-Testzentrum für Schüler:innen und Lehrkräfte installiert hat. Und sie ist bekannt für ihren charakteristischen Marktplatz. Neustrelitz ist aber gerade bei den Einheimischen auch bekannt für ihren Leerstand und die fehlenden Perspektiven für junge Menschen. Jetzt ist die Zeit, die Weichen zu stellen, damit die Stadt nicht selbst zur Marktplatz-Elfe wird, die dasitzt und hofft, dass jemand vorbeikommt und sie mitnimmt in die digitale Zukunft.